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Problemanalyse im psychotherapeutischen Prozess

Leitfaden für die Praxis

AutorGisela Bartling, Liz Echelmeyer, Margarita Engberding
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl261 Seiten
ISBN9783170297609
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
The new edition of this standard work on problem analysis and treatment planning provides an updated guide for the conception of cases in clinical and psychotherapeutic training and practice. The book provides guidance through the entire process of psychotherapy: selecting problems and establishing a diagnosis, analysing problems and behaviour at various levels, setting goals, creating motivation to achieve change, and selecting and evaluating therapeutic interventions within a framework of comprehensive treatment planning. This guide thus represents an outstanding aid for the orientation and structuring of an expert assessment report in the context of submitting applications for therapy. Selected working materials included in the book are available to readers for downloading.

Dr. Gisela Bartling is Principal of the IPP in Münster. Dipl.-Psych. Margarita Engberding is a lecturer and supervisor at the IPP in Münster. Dipl.-Psych. Liz Echelmeyer is a clinical psychologist, psychotherapist and lecturer/supervisor in private practice.

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Leseprobe

 

2          Problemanalyse –
»Das Knäuel soll entwirrt werden«


 

 

 

Haben sich die Beteiligten über eine gemeinsame Definition der Problemstellung verständigt, kann zur zweiten Phase des Problemlöseprozesses, nämlich der Problemanalyse, übergegangen werden. Hier geht es darum, den unerwünschten Ausgangszustand genauer zu betrachten, wobei auch die defizitären Problemlösestrategien, die bisher einer Zielerreichung im Wege standen, einbezogen werden.

Wir schlagen vor, die Analyse der Probleme auf drei in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehenden Problemebenen vorzunehmen. Auf der Ebene des Verhaltens-in-Situationen und der Ebene der Regeln, Pläne und Motive findet die individuelle Analyse statt. Die Betrachtung des sozialen Kontextes auf der Ebene der System-Regeln ergänzt die Analyse. An die Analyse der aktuellen Problembedingungen schließt sich die Betrachtung der Problemgenese an.

Die gewonnenen Informationen werden ausgewertet und mit störungsspezifischem Bedingungswissen in Beziehung gesetzt. Auf dieser Grundlage werden Hypothesen über die Entstehung und Aufrechterhaltung des Problems abgeleitet und zu einem individuellen Störungsmodell zusammengefasst. Dieses stellt den Ausgangspunkt für die weitere Veränderungsplanung dar.

2.1       Verhaltensanalyse –
»Wie sieht das ganz konkret aus?«


In der Verhaltensanalyse im Sinne einer Mikroanalyse betrachten wir das konkrete Verhalten und Erleben des Patienten und am Problem beteiligter Personen in problemrelevanten Situationen. Ziel der Analyse ist es, ein funktionales Bedingungsmodell zu erstellen, also Aussagen über die Art der aktuellen Verhaltenssteuerung zu machen. Diese Aussagen haben den Charakter von vorläufigen Hypothesen (Schulte, 1999; Kanfer, Reinecker & Schmelzer, 2012).

Die Darstellung erfolgt in zeitlich gegliederten Verhaltenssequenzen, die die Modalitäten des Verhaltens, seine vorausgehenden, vermittelnden und nachfolgenden Bedingungen erfassen. Bestehen die vorausgehenden oder nachfolgenden Bedingungen aus Verhalten von Interaktionspartnern, so kann es sinnvoll sein, auch für diese Personen Verhaltenssequenzen zu erstellen.

Die Analyse konkreten Verhaltens-in-Situationen (V-i-S) geschieht durch das Herausgreifen interessierender Verhaltensausschnitte aus dem »Verhaltensfluss«.

2.1.1     Auswahl und Charakterisierung des Problemverhaltens


1. Wahl eines problemtypischen Verhaltensausschnittes

Anhand der individuellen Problemstellung muss zuerst entschieden werden, welches Verhalten sinnvollerweise für die Analyse ausgewählt wird. Die Bestimmung dessen, was als Verhalten herausgegriffen und im Sinne einer abhängigen Variablen definiert wird, ist von der Interpunktion des Betrachters abhängig. Jede Verhaltensweise kann innerhalb eines Verhaltensflusses potentiell die Funktion einer abhängigen (AV) wie auch einer unabhängigen Variablen (UV) einnehmen. Im ersten Fall stellt sie selbst das zu analysierende Verhalten dar. Unter einem anderen Betrachtungswinkel kann sie als vorausgehende, vermittelnde oder nachfolgende Bedingung für ein anderes Verhalten angesehen werden.

Aufgrund von Arbeitsüberlastung (UV) zeigt eine Mutter große Ungeduld (AV) bei der Überwachung der Hausaufgaben ihres Sohnes. Diese Ungeduld ihrerseits erhält als vorausgehende Bedingung für die schlechte Konzentration des Jungen (AV) die Funktion einer unabhängigen Variablen.

Wird bei einer Patientin mit Essstörungen der Essanfall als interessierendes Verhalten (AV) ausgewählt, hat das restriktive Essverhalten im Vorfeld die Funktion der unabhängigen Variablen (UV). Konzentriert man sich dagegen auf das Erbrechen als problematisches Verhalten (AV) wird der vorhergehende Essanfall zur unabhängigen Variablen (UV).

Besteht das Problem darin, dass ein bestimmtes Verhalten nicht gezeigt wird (Verhaltensdefizit), kann das in der Situation stattdessen gezeigte Verhalten betrachtet werden.

Eine depressive Frau beteiligt sich nicht an den Familienaktivitäten. Hier könnte das Verhalten »sich schweigend in einer abgelegenen Ecke zurückziehen« analysiert werden.

Fast immer ist es nötig, neben dem problematischen Verhalten das erwünschte Alternativverhalten in seinem Bedingungszusammenhang zu betrachten.

Unter welchen Bedingungen kann sich ein im schulischen Bereich konzentrationsschwaches Kind länger dauernd mit einer Sache befassen?

Das jeweils ausgewählte Verhalten wird anhand mehrerer typischer Einzelbeispiele – möglichst aus verschiedenen Kontexten und möglichst aus der letzten Zeit – mit all seinen wichtigen situativen Bestimmungsstücken betrachtet.

2. Charakterisierung des Verhaltens

Es sollen Aussehen, Intensität, Frequenz und Verlaufscharakteristika des Problemverhaltens erfasst werden:

Aussehen: Hier geht es um die möglichst konkrete und differenzierte Beschreibung des Verhaltens in allen Komponenten.

Eine Zwangspatientin schildert detailliert ihr Ritual, das sie beim Betreten der Wohnung ausführt, um keine Schmutzpartikel einzuschleppen.

Intensität: Die Intensität einer Symptomatik schwankt gewöhnlich je nach Befindlichkeit und Kontext.

Die Angst von Frau P., in der Öffentlichkeit zu sprechen, variiert mit der Anzahl, dem Bekanntheitsgrad und dem Status der Zuhörer. Zur Einschätzung der Angst oder des subjektiven Unbehagens kann das sog. »Angstthermometer« mit einer Skala von 1 bis 100 dienen.

Frequenz: Die Häufigkeit des Verhaltens kann für eine frei zu wählende Zeiteinheit (Woche, Tag usw.) erfasst werden. Hierzu sollte eine Grundlinienerhebung (Baseline) erfolgen. Variiert die Verhaltensauffälligkeit mit den Kontexten, wird die Frequenz für jede Bedingungskonstellation erfasst.

Die 12-jährige Anita leidet unter Trichotillomanie (Haareausreißen). Sie wird angeleitet, die Haare, die sie während einer Schulstunde ausreißt, zu sammeln und zu zählen und mit der Anzahl der ausgerissenen Haare während eines 45-minütigen Fernsehfilms zu vergleichen.

Verlaufscharakteristika: Nicht alle Komponenten des Verhaltens treten gleichzeitig und unmittelbar nach dem »Alles-oder-Nichts-Prinzip« auf. Diese Charakteristika können Hinweise für die Veränderungsplanung geben.

Die Panikattacke von Herrn F. beginnt mit Hitzewallungen, Handschweiß und rasendem Herzklopfen, danach setzt ein Ringgefühl in der Brust mit Atemnot und Angstgefühlen ein. Es folgt kurze Zeit später ein anhaltendes Übelkeitsgefühl, das auch noch etwa eine Stunde nach Abklingen der anderen Symptome bestehen bleibt.

Besonders wichtig ist die Analyse der Verhaltensdynamik bei Verhalten mit starken physiologischen Komponenten.

Als Informationsquelle für die Analyse typischen Problemverhaltens dienen Gespräche, Selbst- und Fremdbeobachtung, diagnostische Rollenspiele, vor allem aber kontinuierliche Aufzeichnungen des Patienten über Vorkommen und Bedingungen des Verhaltens-in-Situationen. Viele Therapiemanuale bieten Anregungen und Vorlagen für solche Verhaltensprotokolle, wie z. B. das Marburger Angsttagebuch in Margraf und Schneider (2014), das Kopfschmerztagebuch für Kinder in Kröner-Herwig (2000) oder das Essprotokoll in Tuschen-Caffier und Florin (2012).

2.1.2     Funktionales Bedingungsmodell


Im funktionalen Bedingungsmodell werden auf der Grundlage der Analyse von Einzelbeispielen Hypothesen darüber erstellt, welche vorausgehenden, vermittelnden und nachfolgenden Bedingungen das problematische Verhalten bzw. das Alternativverhalten beeinflussen.

2.1.2.1    Erläuterung des Modells


Wir schlagen ein Modell zur Bedingungsanalyse konkreten Verhaltens-in-Situationen (V-i-S; Abb. 4) vor, in dem folgende Komponenten unterschieden werden:

•  externe Situation (Se) und interne Situation (Si) als zeitlich vorausgehende Bedingungen

•  Wahrnehmungsprozess (WP) und innere Verarbeitung (iV) als vermittelnde Bedingungen

•  Verhalten (V) in seinen verschiedenen Modalitäten als abhängige Variable

•  externe Konsequenzen (Ke) und interne Konsequenzen (Ki) als nachfolgende Bedingungen

Das Modell impliziert, dass über Rückkoppelungsschleifen sowohl internal wie external ein Feedback stattfindet. So kann die Eigendynamik von...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Deckblatt1
Titelseite4
Impressum5
Inhalt6
»Was uns vorweg am Herzen liegt«10
I Ausgangsüberlegungen – Zum Verständnis des Konzepts12
1 Problem und Problemlöseprozess16
2 Verhalten und Problemebenen20
3 Individualisierung versus Standardisierung im diagnostisch-therapeutischen Prozess23
4 Funktion und Handhabung des Leitfadens25
5 Problemanalyse und »Bericht für den Gutachter«27
II Ein Leitfaden zur Problemanalyse und Planung des therapeutischen Veränderungsprozesses28
1 Problemstellung – »Worum geht es überhaupt?«32
1.1 Erste Orientierung über die Problematik32
1.2 Problemdefinition und Diagnostik – »Nicht gleich auf dem ersten Gleis abfahren«35
1.2.1 Ordnen der Probleme35
1.2.2 Weitere Informationsgewinnung37
1.2.3 Vorläufige Diagnose und Indikationsstellung39
1.3 Problemauswahl42
2 Problemanalyse – »Das Knäuel soll entwirrt werden«46
2.1 Verhaltensanalyse – »Wie sieht das ganz konkret aus?«46
2.1.1 Auswahl und Charakterisierung des Problemverhaltens47
2.1.2 Funktionales Bedingungsmodell50
2.2 Plan-, Motivations- und Schemaanalyse – »Jetzt erweitert sich das Blickfeld«68
2.2.1 Plankonzept: Betrachtung übergreifender Komponenten der Handlungssteuerung70
2.2.2 Erschließen von Regeln und Plänen74
2.2.3 Vorgehen bei der Analyse75
2.2.4 Hinweise aus der Therapeut-Patient-Beziehung75
2.2.5 Richtung der Planerschließung78
2.2.6 Kriterien zur Beurteilung von Regeln, Plänen und Schemata80
2.2.7 Motivorientierte Beziehungsgestaltung und Fallkonzeption83
2.3 Analyse von Systemregeln – »Welche Spielzüge sind vorgeschrieben?«87
2.3.1 Erhebung von Systemregeln89
2.3.2 Systemdynamik90
2.4 Entstehung und Ausformung des Problems – »Ein Blick zurück«91
2.4.1 Biographische Anamnese92
2.4.2 Beginn und Weiterentwicklung des Problems93
2.4.3 Erklärungen für die Entstehung des Problems95
2.5 Schlussfolgerungen aus der bisherigen Mikro- und Makroanalyse für Diagnose, Zielanalyse und Veränderungsplanung – »Bilanz ziehen, bevor es weitergeht«98
2.5.1 Hypothesen und Ansatzpunkte98
2.5.2 Ätiologisches Gesamtmodell99
2.5.3 Gesamtbetrachtung aller Probleme und ihres Zusammenhangs101
3 Zielanalyse – »Auf den ersten Blick scheint uns das Ziel oft klar…«104
3.1 Veränderungsvoraussetzungen – »Was kann und will jeder einsetzen?«104
3.1.1 Positive und negative Seiten des derzeitigen Zustands105
3.1.2 Veränderungsmotivation106
3.1.3 Fördernde und hemmende Umgebungsfaktoren106
3.2 Zielbestimmung – »Was soll erreicht werden?«108
3.2.1 Zielvorstellungen bei allen Beteiligten108
3.2.2 Bestimmung von Zielen und Zwischenzielen110
3.3 Die Therapeut-Patient-Beziehung – »Sand im Getriebe?«111
3.3.1 Voraussetzungen der Zusammenarbeit112
3.3.2 Interaktionsverhalten und Beziehungsstruktur113
4 Mittelanalyse – »Wege zum Ziel«116
4.1 Ansatzpunkte zur Veränderung – »Wo wird der Hebel angesetzt?«117
4.2 Veränderungsprinzipien – »Wie soll es grundsätzlich laufen?«120
4.3 Konkreter Therapieplan – »Kleine Schritte sind die Praxis«124
4.3.1 Konkretisierung von Veränderungsschritten124
4.3.2 Gesamtbehandlungsplan127
4.3.3 Planung der Erfolgskontrolle129
4.3.4 Vorbereitung der anstehenden Therapiephase130
5 Erprobung und Bewertung der Veränderungsschritte132
5.1 Erfahrungen mit neuen Strategien – »Probieren geht über Studieren«132
5.2 Bewertung des Veränderungsprozesses – »Häufiger Bilanz ziehen«134
5.3 Beendigung der Therapie – »Ende gut, alles gut?«136
6 Qualitätssicherung und Supervision – »Vertrauen ist gut …«139
6.1 Verbesserung der Prozess- und Ergebnisqualität139
6.2 Supervision142
III Kurzfassung des Leitfadens: Problemanalyse im psychotherapeutischen Prozess146
IV Fallbeispiele164
Frau T. – Beispiel für Problemanalyse und Therapieplanung bei einer Zwangserkrankung166
Frau D. – Beispiel für eine Falldokumentation einer sozialphobischen Patientin191
Frau E. – Beispiel für einen Bericht an den Gutachter über eine essgestörte Patientin209
Materialien218
Dokumentationsbogen für Erstgespräch u. Kurzberatungen220
Fragebogen zur Person und Lebensgeschichte222
Bogen zur Exploration und Bedingungsanalyse konkreter Verhaltensbeispiele243
Protokollbogen für Psychotherapiesitzungen244
Zwischenbilanz: Fragen zur Standortbestimmung245
Patientenfragebogen zum Therapieabschluss246
Therapieabschlussbericht (»Epikrise«)249
Literatur251
Personenverzeichnis260
Materialien263

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