1 Einleitung
Stephan Remmert
Mithilfe der plastisch-rekonstruktiven Chirurgie werden Funktionen des menschlichen Körpers wiederhergestellt, die infolge von Fehlbildungen, Traumata, Tumorresektionen und anderen Krankheiten beeinträchtigt wurden oder vollständig verloren gingen. Die häufigste Ursache für plastisch-rekonstruktive Maßnahmen im Kopf-Hals-Bereich, speziell im oberen Aerodigestivtrakt, ist die Resektion von malignen Tumoren. Die primär von den Tumoren selbst hervorgerufenen Funktionsstörungen werden häufig durch die Tumorresektion zusätzlich verstärkt.
Generell hinterlassen komplette Organresektionen wie beispielsweise die Glossektomie, die komplette Gaumenresektion, die Laryngektomie oder die quere Pharyngolaryngektomie die schwerwiegendsten funktionellen Defizite, u.a.:
Aber auch Teilresektionen können ab einer bestimmten Größe zu nachhaltigen Störungen der oropharyngolaryngealen Funktionen führen. Mit schweren Schluckproblemen z.B. muss gerechnet werden, wenn mehr als 50% einer am Schluckakt beteiligten Struktur reseziert werden müssen ▶ [1] ▶ [9] ▶ [15] ▶ [42].
In Abhängigkeit von der Tumorlokalisation können dabei unterschiedliche Funktionen isoliert, aber auch kombiniert, beeinträchtigt werden:
So führen Resektionen im Bereich des oralen Anteils der Zunge und des vorderen Mundbodens vorrangig zu Störungen der Artikulation und der Vorbereitungsphase des Schluckakts ▶ [18] ▶ [20] ▶ [25] ▶ [30] ▶ [46] ▶ [47]. Betroffen sind dabei die Bolusvorbereitung, die Boluslateralisation sowie das Bolushaltevermögen ▶ [18] ▶ [46].
Nach Teilverlusten des Zungengrunds dagegen kommt es zu einer Abnahme der Zungenschubkraft und dadurch zu Veränderungen des pharyngealen Vortriebs ▶ [30] ▶ [46].
Ähnlich negative funktionelle Auswirkungen auf die Boluspropulsion haben Resektionen im Bereich des weichen Gaumens und der Tonsillenloge. Ein Substanzverlust in dieser Region führt als Folge einer velopalatinalen Insuffizienz zu einer Druckentweichung in den Nasopharynx ▶ [23] ▶ [24] ▶ [30] ▶ [50].
Resektionen der suprahyoidalen Mundbodenmuskulatur zerstören den vorderen Aufhängungsapparat des Kehlkopfs und behindern eine normale Larynxelevation während der pharyngealen Schluckphase ▶ [18] ▶ [25] ▶ [34] ▶ [46] ▶ [47]. Infolge der mangelhaften oder fehlenden vorwärts und aufwärts gerichteten Kehlkopfbewegung wird der pharyngoösophageale Sphinkter nur unzureichend geöffnet. Der fehlende „Saugdruck“ erschwert den normalen Schluckakt ▶ [19] ▶ [21] ▶ [46].
Substanzverluste des Kehlkopfs haben Störungen der Verschlussmechanismen des oberen Luftwegs zur Folge. Diese existieren in Form von sog. Verschlussventilen auf 3 Ebenen: Epiglottisebene (mit aryepiglottischen Falten), Taschenbandebene und Stimmbandebene ▶ [12]. Bei Resektionen im Bereich dieser Strukturen besteht grundsätzlich die Gefahr lebensbedrohlicher Aspirationen ▶ [9] ▶ [12] ▶ [18] ▶ [25] ▶ [37]. Darüber hinaus wird in den meisten Fällen die Erzeugung des primären Stimmschalls beeinträchtigt oder geht vollständig verloren.
Wegen resultierender schwerwiegender Funktionsstörungen besteht nach ausgedehnten Tumorresektionen im oberen Aerodigestivtrakt die absolute Notwendigkeit, die Anatomie im Bereich verlorengegangener Gewebe- und Organteile wiederherzustellen.
Dies hat in der Vergangenheit zur Entwicklung zahlreicher Rekonstruktionsmethoden geführt. In der Regel wird ein autologer Gewebeersatz favorisiert. Mitte der 1960er-Jahre waren es die regionalen Lappen wie der Deltopektorallappen ▶ [5], der Stirnlappen ▶ [31] oder der Temporalislappen ▶ [22], die zum Verschluss dieser Defekte verwendet wurden. Dies erforderte mehrzeitige operative Sitzungen über viele Wochen. Fortschritte brachte Ende der 1970er-Jahre die Entwicklung der myokutanen Insellappen. Mithilfe des myokutanen Pectoralis-major-Lappens ▶ [3] ▶ [7] ▶ [44], des Sternokleidomastoideuslappens ▶ [2] oder des Latissimus-dorsi-Lappens ▶ [33] ließ sich erstmals die Anatomie im Bereich ausgedehnter Defekte mit einzeitigen Rekonstruktionen wiederherstellen. Zur gleichen Zeit kam es zu einer sprunghaften Entwicklung der bereits 1959 von Seidenberg u. Mitarb. zum ersten Mal beim Menschen durchgeführten mikrovaskulären Gewebetransplantation ▶ [36]. Als Folge der Verfeinerung des mikrochirurgischen Instrumentariums und der Verbesserung der Gefäßnahttechnik stellten sich die ersten klinischen Erfolge ein. Diese lösten eine gezielte Erforschung neuer Spendergebiete aus. In den Jahren von 1979–1984 wurden das Beckenkamm- ▶ [43], das Unterarm- ▶ [49], das Oberarm- ▶ [40], das Skapula- ▶ [10] und das Paraskapulatransplantat ▶ [32] beschrieben.
Heute steht eine große Anzahl von Transplantaten mit unterschiedlichen Gewebekomponenten von verschiedenen Spenderregionen zur Verfügung. Aktuell gibt es neue Entwicklungen im Bereich des mikrochirurgischen Transfers von autologen Gewebetransplantaten, die von einzelnen Gefäßarkaden bzw. Perforatorgefäßen versorgt werden. Inwieweit diese Einzug in die klinische Praxis halten werden, bleibt abzuwarten.
Mit dieser Vielfalt rekonstruktiver Möglichkeiten können verlorengegangene anatomische Strukturen besonders unter funktionellen Gesichtspunkten optimaler ersetzt werden. Der Einsatz unterschiedlicher Gewebe, die Kombination verschiedener Transplantate und Lappen oder die Präformierung von Spenderregionen ermöglichen heute Rekonstruktionen weit über das Maß der alleinigen Wiederherstellung der Oberflächenintegrität hinaus. Deshalb sind die funktionellen Ergebnisse und damit die Lebensqualität der Patienten nach chirurgischer Therapie ausgedehnter Tumoren des oberen Luft- und Speisewegs nicht nur vom Resektionsausmaß und von der Resektionslokalisation abhängig, sondern entscheidend auch von der Art der Rekonstruktion ▶ [4] ▶ [16] ▶ [25] ▶ [38] ▶ [41] ▶ [45].
1.1 Literatur
[1] Aguilar NV, Olson ML, Shedd DP. Rehabilitation of deglutition problems in patients with head and neck cancer. Am J Surg 1979; 138: 501–506
[2] Aryan S. One-stage reconstruction for defects of the mouth using a sternomastoid myocutaneous flap. Plast Reconstr Surg 1979; 63: 618–625
[3] Aryan S. The pectoralis major myocutaneous flap: a versatile flap for reconstruction in the head and neck. Plast Reconstr Surg 1979; 63: 73–81
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