Geschichte eines Massenwahns
von Friedrich Reck-Melleczewen
PROLOGUS (Prolog)
Das Kapitel, das hier umgeblättert wird, dürfte in des deutschen Volkes wunderlicher Geschichte als das wunderlichste, das schaurigste und zugleich das unbekannteste dastehen, obwohl es durch fast zwei Jahre die Welt in Atem hielt, eine ganz beträchtliche Stadt des alten Reiches samt einem seiner Kreise in ein Narrenhaus verwandelte und für jene alte Welt von Kaiser und Reichsständen beinahe den gleichen Brandherd bedeutete wie neun Jahre zuvor der Bauernkrieg. Wenn aber eine ganze Stadt sich für volle achtzehn Monate absperrt gegen die Außenwelt, wenn sie, nicht nur unter dem Geschrei des Mobs, sondern unter lebhafter Zustimmung auch von Handwerkern, Großbürgern, Patriziern und sogar von diesem und jenem in die Stadt gelaufenen Edelmann einen landfremden Schneidergesellcn von anrüchiger Vergangenheit zum König von Zion wählt, wenn endlich dieser König, wiederum unter Zustimmung von hoch und gering, alle gewohnten Begriffe auf den Kopf stellt, alle bürgerlichen Bindungen des Mittelalters zerreißt ... wenn Edelfrauen sich sozusagen in seinen Harem drängen und wenn endlich dieses alles hinter einem Schleier von Blutdampf und hemmungsloser Gier und mißverstandener alttestamentarischer Legende sich vollzieht: dann ist cs doch am Ende wohl am Platze, von einem Massenwahn, von einer rätselhaften, auf ein ganzes Gemeinwesen gefallenen Psychose zu sprechen.
Wir haben, zumal in der Geschichte des deutschen Mittelalters, nicht wenig Beispiele für solche die Masse erfassenden Psychosen, und wir sind heute auf diese Weise wohl objektiv genug, die Gesetze dieser unheimlichen Erscheinungen so kühl zu registrieren, wie wir es in der klinischen Schilderung einer körperlichen Krankheit tun. Wir wissen heute auch, daß sie immer in den großen Schicksalskehren und in den großen Wendungen der Weltgeschichte erscheinen, wenn vor den Augen eines arbeitsamen und durchaus nüchternen Volkes alte Fundamente versinken, ohne daß schon die neuen Grundlagen für ein fleißiges und formvolles Leben sichtbar wären. Und wir wissen, daß in solchen Zeiten unterirdische Gewölbe mit ungeahnten Inhalten sich öffnen — Gewölbe, unter denen Gottes Kinder zuvor ahnungslos ihren mühevollen und freudekargen Tag gelebt haben. Und wir wollen uns auch dazu bekennen, daß es unter jeder Kultur diese unbekannten Katakomben gibt ... ja, daß es sie unter jedem des Sinnierens und der großen Gedanken noch fähigen Volke geben muß. Denn wie von Männern, so gilt auch von ganzen Völkern der Satz, daß sie in den Krisen ihrer Geschichte gar nicht wissen, wohin sie gehen.
Wir aber neigen noch immer dazu, die Renaissance, die doch dem gotischen Menschen sozusagen über Nacht den Boden seines gottgeweihten Lebens unter den Füßen fortriß — wir neigen, sage ich, noch immer dazu, diese ungeheuerliche Weltenwende als eine simple Geschmacksänderung zu betrachten, bei der man mit der Form der Fenster- und Türbogen ein wenig die Hausfassade änderte und fortan andere Kleider trug. Wir denken viel zu sehr an diese Symptome, und wir denken viel zu wenig an die Ursachen, und wir denken am allerwenigsten an das, was hinter jenen geänderten Ilausfassaden dem nordischen Menschen fortan an seiner Seele geschah und wie es kam, daß er, der bis dahin sein Geld in der Lade verschlossen hatte, fortan den Begriff des zinsenden Kapitals als geschichtsbestimmenden Faktor anerkannte und warum das Betreten Amerikas, das den Wikingern doch nur ein interessantes Abenteuer bedeutet hatte, nach Christoph Columbus alle gewohnten Begriffe umwarf und das Steuerruder auf einen gänzlich veränderten Kurs legte.
Vergegenwärtigen wir uns diese Tatsachen und werden wir uns darüber klar, wie um das Jahr fünfzehnhundert tausend uralte und geheiligte Vorstellungen zerbrachen, werden wir uns wirklich einmal klar darüber, daß das Verschwinden der alten Lebens- und Gesellschaftsformen den Einzelmenschen zunächst der Formlosigkeit und einem heillosen Individualismus überantwortete, so verstehen wir erst in ihren wirklichen Ursachen alle die Vulkanausbrüche jener Zeit, ob sie nun Bauernkrieg oder schmalkaldische Wirren oder Bildersturm oder münsterisches Zion heißen mögen. Die imsichtbare Hand der Geschichtslenkung rührte die Gewässer der Seelen um so furchtbarer um, je tiefer diese Gewässer waren, und wenn wir uns fragen, warum denn dieser Eingriff erfolgte und woher denn eigentlich diese furchtbare Wandlung des gotischen homo religiosus in die heute nun auch schon überlebt und ranzig anmutende Sachlichkeit des damals neuen Menschentyps kam, so stehen wir vor einem jener ewigen Rätsel, die die Geschichte dem unverbildeten Menschen aufgibt und deren Existenz nur die Canaille im Geist unter dem Hinweis auf alle ihre Dreigroschenerklärungen zu leugnen wagt. Das, was damals in Münster geschah, war ja nur das abgelegene Teilfeld eines kosmischen Bebens, und nicht viel anders wurde es wohl von manchen Menschen empfunden, denen die Vorgänge in Münster selbst ein tiefer Greuel gewesen sein mögen. Der brave Schreinermeister Gres- beck, der die Vorgänge aus nächster Nähe sah, urteilt höchst schlicht: „Und alles, das sie taten / das mußte alles recht sein / es war alles so Gottes Wille.“ Und als das münsterische Fieber abgeklungen ist und dieser König Bockelson wieder als armseliger, von der Staatsgewalt gefaßter Schneidergeselle im Gefängnis sitzt, da berichtet der bischöfliche Kaplan Syburg, der ihn in der Haft besucht, „daß die Reue des unglücklichen Menschen außerordentlich gewesen sei und daß er nach eigenem Bekenntnis sich zehnfachen Sühnetod gewünscht habe ...“
Werden wir also mit der gleichen Ehrfurcht vor dem Geschichtswillen die Registrierung dieser Fieberphasen versuchen, so bleibt vorher doch die Frage zu beantworten, wie es gerade in diesem solide bürgerlichen und auf den ersten Blick beinahe unsinnlich zu nennenden niederdeutschen Winkel zu diesem tollen Taumel, zu diesem Orgasmus der Jahre 1534 und 1535 kommen konnte. Die Frage aber deckt sich durchaus mit der Frage nach den dämonischen Möglichkeiten der mittelalterlichen Seele, nach jenen Möglichkeiten, die in den Wasserspeiern der Dome und in Syrlins und Grünewalds mummeligen Spukgestalten Wirklichkeit wurden ... ja, noch unter den tönenden Säulen Johann Sebastian Bachs werdet ihr jenen Teufeln begegnen, die schon deswegen sein müssen, weil Gott ist. Schlagen, „auf daß das Gebot erfüllet werde“, auf den gotischen Martertafeln die Geißler auf den Erlöser beinahe wie Gottes Beamte und jedenfalls so ein, daß sie dem Betrachter fast ebenso leid tun wie der Gegeißelte selbst ... war der abendländische Geist damals solcher Weite fähig, so sollen wir uns nicht wundern, daß er auf seinen schweifenden Wanderungen auch den Dämonen, den Spottgeburten seiner Unterwelt, den Plagegeistern seiner Urrohheit und aller Todsünden begegnete.
Und abermals, wie in der Geschichtsbetrachtung so oft, steht in diesem Aspekte der Mensch vor der Tatsache, daß Heilige und Teufel auf engem Bezirk nebeneinander wohnen und daß tief in den Staub die Kreatur fallen muß, will sie das Antlitz des Ewigen schauen.
Vielleicht wie kein anderer Stamm des deutschen Sprachgebietes neigt der von der Natur kärglich bedachte obersächsische zur sozialen Gewitterbildung, vielleicht wie kein anderer der alemannische zum Spintisieren über religiöse Themen und zum zornigen und rechthaberischen Diskutieren der Schrift.
Der erstgenannte hatte schon 1525 mit Thomas Münzers Webergesellen in den Krieg der süddeutschen Bauernhaufen die den badischen und württembergischen und fränkischen Scharen unendlich fremde kommunistische Note gebracht; der zweite, tief in sich versunken, landet, wie noch heute aus der reichen Speisekarte schwäbischer Sekten ersichtlich, gern bei verwegenen religiösen Grübeleien, um deretwillen er dann, um ja nur ein neues Reich Gottes zu gründen, willig Hab und Gut von sich wirft und schließlich mit dem Gesetz in harten Konflikt kommt. In den Zittauer Zirkeln wurzeln die sozialen, im Schwabenland und in der stammverwandten Schweiz die eigentlich ideologischen Bestandteile der Wiedertäuferei.
Der Gedanke aber, es habe nicht das unvernünftige Kind, sondern eben der bewußte Erwachsene das Sakrament des Wassers zu empfangen, ist in dem ganzen Ideenwust dieser ersten sächsischen und schwäbischen Täufer gemeinden noch das harmloseste — weit explosiver wirkt es, daß sie sofort ins Häretische, vielfach ins, Gewalttätige, fast immer aber ins Manische sich auswachsen. Schließe dich ab von der Umwelt, kleine Gemeinde der Heiligen, lebe besitzlos wie die ersten Christen ... lebe so, und du wirst, da die Wiederkehr des Herrn ja sowieso unmittelbar bevorsteht, sehr bald in deiner Mitte die Berufenen und Propheten finden ... ja, du wirst sehen, daß die Unscheinbarsten deiner Mitglieder der Gnade teilhaftig werden, Gottes Wundergesichte zu sehen und seine Stimme mit ihren irdischen Ohren zu hören...