Gleichwohl gibt es einen Punkt, wo die Wege des alten und des neuen Individualismus sich scheiden. Jenem war die menschliche Entwicklung ein Reich für sich; es lag ihm ferne, die Geschichte der geistigen Erzeugnisse zu der Entstehung der sonstigen Bildungen der Natur, selbst der organischen Wesen in Beziehung zu bringen. Heute ist die Lage der Dinge eine andere geworden. Die Entwicklungstheorie beherrscht gegenwärtig alle Wissenschaften. Die Analogien zwischen menschlicher und tierischer Entwicklung sind allgemein zugestanden. Beinahe jede Hypothese, namentlich wenn sie mehr auf Konstruktionen als auf Tatsachen beruht, stützt sich auf sie. Der Individualismus hat sich diese Stütze nicht entgehen lassen. Auch hier hat Paul für die Sprache diese naturhistorischen Analogien eingehend erörtert.
Wie in der organischen Natur Arten, Gattungen, Klassen nichts anderes sind als "Zusammenfassungen des menschlichen Verstandes, die je nach Willkür verschieden ausfallen können", so hat im letzten Grunde jedes Individuum seine eigene Sprache, und es ist darum bis zu einem gewissen Grade willkürlich, wenn wir eine Anzahl solcher Individualsprachen zu einer Dialektgruppe verbinden. Demnach ist aber auch jede Änderung oder Neubildung der Sprache zunächst ein individuelles Geschehen, und es hängt von hinzutretenden Umständen ab, ob sich ein solches auf andere Individuen ausbreitet oder nicht. Ferner entstehen, wie uns die Darwinsche Theorie gelehrt hat, neue Varietäten dadurch, daß sich ursprünglich zufällige individuelle Abweichungen, irgendwie durch den Kampf ums Dasein begünstigt, steigern und ständig werden. Ganz analog ist daher innerhalb der menschlichen Gesellschaft das Usuelle überall aus dem ursprünglich Okkasionellen entstanden . Die aus einem bestimmten Anlaß zum erstenmal vollführte Handlung eines Einzelnen wird unter günstigen Umständen zur Gewohnheit, die Gewohnheit breitet sich auf andere aus, sie wird zum Brauch. Gleicher Weise hat in der Sprache jede Änderung oder Neubildung einen individuellen Ausgangspunkt. Zwischen der unendlichen Menge individueller Sprechweisen vollziehen sich aber durch Austausch und Nachahmung allmählich Angleichungen. So wird. was ursprünglich eine individuelle Abänderung war, in die allgemeine Sprache aufgenommen, und aus dieser können sich dann wieder durch weitere individuelle Abänderungen Dialekte differenzieren .
So sehr nun unter diesen beiden Analogien der Hinweis auf das Vorbild, das die moderne Entwicklungstheorie durch die Auflösung des starren Speziesbegriffs der genetischen Betrachtung der menschlichen Gesellschaft gegeben hat, auf den ersten Blick imponieren mag, so dürfte diese Analogie doch beim Lichte besehen nur in dem einen Punkte zutreffen, in dem es solcher Analogien überhaupt nicht bedarf: darin nämlich, daß in unserer Erfahrung überall das Konkrete, das Einzelne in Wirklichkeit allein existiert, und daß abstrakte Begriffe keine realen Dinge sind. Sobald man über diesen Punkt hinausgeht, versagt aber die Analogie. Oder wo fände sich etwa in der Tierwelt ein Beispiel dafür, daß stammesfremde Arten, ähnlich stammesfremden Sprachen, sich mischen, oder daß ein Individuum dem andern durch Nachahmung ähnlich wird? In der Tat, diese Analogie geht in Stücke, wo man sie anfaßt. Physische Objekte und psychische oder psychophysische Funktionen gleichen sich eben in nichts, ausgenommen darin, daß beide nur in der Form konkreter Erscheinungen vorkommen. Dagegen läßt sich vermöge dieser allgemeinsten Analogie nicht das geringste darüber aussagen, wie irgend eine Veränderung in den zahlreichen Individualsprachen, aus denen sich eine Gemeinsprache zusammensetzt, eingetreten ist. Hier ist nur dies gewiß, daß die Nachahmung, die, möge auch ihr Einfluß überschätzt worden sein, bei der Sprache jedenfalls nicht auszuschließen ist, bei den Variationen und Mutationen innerhalb der organischen Natur keine Rolle spielt.
Nicht anders verhält es sich mit dem Argument, daß das Usuelle überall aus einer irgend einmal zufällig oder willkürlich entstandenen Handlung hervorgegangen sei. Gewiß ist ja ein "Usus" nicht plötzlich vom Himmel gefallen. Er wird stets aus einzelnen zunächst ausnahmsweise geschehenden Handlungen entstanden sein. Aber damit ist nicht gesagt, daß diese überall auf einzelne selbständig handelnde Individuen zurückgehen. Wer so schließt, der substituiert zunächst dem Okkasionellen das Individuelle und dann weiterhin dem Individuellen die einzelnen Individuen. Nun ist natürlich nicht ausgeschlossen, daß Gewohnheiten und sogar willkürliche Einfälle Einzelner usuell werden können. Aber als die Regel läßt sich dies in keiner Weise hinstellen, und es kommt vor allem auf die besondere Art der Lebenserscheinungen an, ob es wahrscheinlich ist oder nicht. Das Gebiet, wo die individuelle Entstehung die größte Bedeutung hat, ist zweifellos die Mode. Eine Kleidermode kann von einem einzelner Schneider oder von einer in Sachen der äußeren Repräsentation maßgebenden Persönlichkeit erfunden werden, und vielleicht ist das sogar der häufigste Weg ihrer Entstehung. Im allgemeinen ist eben die Mode eine Sache der Erfindung, und jede Erfindung geht auf einen Erfinder zurück. Es gibt aber auf der andern Seite Gebiete, wo die Erfindung keine nennenswerte Rolle spielt, wo demzufolge auch eine solche individuelle Entstehung nur ausnahmsweise vorkommen dürfte. Ein solches ist in erster Linie die Sprache, die in dieser Beziehung in der Tat von allen geistigen Erzeugnissen der Menschheit am ehesten an die Entwicklung organischer Naturformen erinnert. Die Vermutung, gewisse Veränderungen der Sprache von allgemeingültigem Charakter, wie z. B. der reguläre Lautwandel, die Assimilationen und Dissimilationen, die sogenannten Analogiebildungen u. a., seien bei zahlreichen Individuen gleichzeitig und unabhängig eingetreten, liegt hier um so näher, je mehr solche Erscheinungen nicht nur auf Einflüsse, denen alle Mitglieder einer Gemeinschaft gleichförmig unterworfen waren, sondern vor allem auch auf Wechselwirkungen zwischen den Individuen hinweisen, welche die Existenz der Gemeinschaft bereits voraussetzen.
Nun ist im Hinblick darauf, daß der Mensch, soweit wir seine Entwicklung zurückverfolgen können, nur in Gemeinschaft gelebt hat, und daß Erzeugnisse wie Sprache, Mythus und Sitte nur innerhalb einer Gemeinschaft möglich sind, die Annahme des individuellen Ursprungs einer Erscheinung innerhalb dieser Gebiete im allgemeinen nur da gestattet, wo ein solcher direkt nachzuweisen oder vermöge der besonderen Bedingungen des Falls wahrscheinlich ist. Von dem Wort "Gas" wissen wir z. B. genau, daß es von dem bekannten Arzt und Chemiker Baptista van Helmont willkürlich, wie er es selbst bezeugt, erfunden worden ist.
In der Tat ist es nun aber nichts anderes als ein Schluß aus solchen Beispielen, die noch dazu in der Regel den Charakter singulärer Erscheinungen an sich tragen, durch den man nicht selten überhaupt den individuellen Ursprung sprachlicher Bildungen wahrscheinlich zu machen sucht. So erzählt Hugo Schuchardt eine Fülle kleiner Anekdoten zum Teil sehr ergötzlicher Art über Sprachschöpfungen, die von einem Einzelnen herrührten und von seiner Umgebung aufgenommen wurden, um hier kürzere oder längere Zeit erhalten zu bleiben. Daß Spitznamen von Personen, scherzhafte Bezeichnungen von Orten, Beschäftigungen usw. solche Produkte individueller Laune zu sein pflegen, ist ja bekannt, und natürlich bin ich weit entfernt, diese Beispiele zu bestreiten; ja ich möchte glauben, daß über den Kreis solch persönlicher Erlebnisse hinaus bei gewissen Sondersprachen, wie bei der Gauner-, der Studentensprache u. a., ein wesentlicher Teil des charakteristischen Wortschatzes individuellen Ursprungs ist, wenn man das auch hier zumeist nicht direkt nachzuweisen vermag. Was aber in diesem Fall eine solche Wahrscheinlichkeit begründet, das hängt mit demselben Merkmal zusammen, dessen Fehlen einen analogen Ursprung für die große Mehrzahl der Bildungen einer allgemeinen Sprache unwahrscheinlich macht: mit dem der willkürlichen Erfindung. Zwar ist es, wie die Geschichte der technischen Entdeckungen lehrt, nicht ganz ausgeschlossen, daß zwei Menschen unabhängig voneinander und annähernd gleichzeitig dieselbe Erfindung machen; aber dieser Fall ist doch sehr selten, so daß man im allgemeinen an der Regel festhalten darf, wo irgend eine Schöpfung als das Produkt einer erfinderischen Tätigkeit erscheint, da sei dies zugleich ein Zeugnis für ihren individuellen Ursprung. Damit soll nicht gesagt sein, daß, wo jenes Merkmal fehlt, nicht dennoch ein solcher möglich ist. Aber es müssen dann eben andere Zeugnisse für diese Annahme eintreten. Ebenso darf die Tatsache, daß bei einer Erscheinung die Nachahmung von Einfluß gewesen ist, nicht ohne weiteres als ein Beweis dafür angesehen werden, daß jene Erscheinung selbst von einem Einzelnen ausgegangen sei. Ein charakteristisches Beispiel bietet hier die von Schuchardt angeführte näselnde Aussprache der Puritaner, besonders ihrer Prediger, die nach einer nicht unwahrscheinlichen Vermutung in der allgemeinen Sprache der Yankees heute noch nachwirkt. Obgleich die einstigen Motive dieser Sprachgewohnheit verloren gegangen sind, so ist diese doch innerhalb des Kreises, in dem sie entstand, wahrscheinlich generellen Ursprungs, und sie ist nicht ausschließlich aus einer Nachahmung abzuleiten. Vielmehr hatte wohl die Sprechweise der Puritaner in dem...